Im Jahr 1683 ritt der osmanische Großwesir Kara Mustafa auf einen Hügel der ungarischen Stadt Buda. Sein Ziel war ein Grabmal über der Donau. Hier lag Gül Baba begraben, der „Vater der Rosen“. Ein Bektaschi-Derwisch, Dichter und Mystiker, der 1541 gestorben war, kurz nach der Einnahme Budas durch die Osmanen.
„Der Überlieferung nach war Gül Baba ein Kindheitsfreund von Sultan Süleyman dem Prächtigen“, sagt der ungarische Geograf und Historiker Norbert Pap von der Universität Pécs. Der Überlieferung zufolge trug der Sultan persönlich Gül Babas Sarg zum Grab und ließ danach dort eine „Türbe“, ein Mausoleum, errichten.
Die Türbe wurde – und ist bis heute – die nördlichste muslimische Wallfahrtsstätte in Europa. Kara Mustafa, der sich 1683 anschickte, Wien zu belagern, betete dort um Allahs Beistand für den bevorstehenden Feldzug.
Die Osmanen-Forschung in Ungarn erlebt eine Blütezeit. Vor der Flüchtlingskrise prägte eine Strategie der „Öffnung nach Osten“ Orbáns Außenpolitik, während Erdogan verkündete: „Wir müssen überall da sein, wo unsere Vorfahren einst waren.“ Diese beiden Visionen haben zu einem Geldsegen für Forschungsprojekte geführt, die sich mit der osmanischen Zeit in Ungarn beschäftigen. Sie genießen auch politische Priorität: Projekte wie die Gül-Baba-Türbe sind meist „Chefsache“, deren Fortschritt Orbán und Erdogan persönlich im Auge haben.
Die Ergebnisse sind ziemlich spektakulär. 2015 fand die auf historische Landschaftsrekonstruktionen spezialisierte Forschergruppe um Norbert Pap die Überreste eines lange verschollenen, legendenumwobenen Gebäudekomplexes: die Todesstätte von Sultan Süleyman dem Prächtigen. Der greise Sultan war 1566 nach längerer Krankheit gestorben, während seine Truppen die Festung Szigetvár belagerten. An der Stelle wurde später eine Türbe samt einem Derwischkloster errichtet. Daneben entdeckten die Archäologen Spuren einer kleinen osmanischen Stadt. Das war die größte Überraschung, denn bis dahin galt der Grundsatz, dass die Osmanen in den von ihnen eroberten Gebieten des Balkan nie eigene Städte gegründet hatten.
Den Grabungserfolg verdankten die Wissenschaftler einer computerunterstützten Landschaftsrekonstruktion und gründlicher Archivforschung, die neue Zeugnisse zum Ort der Schlacht ans Licht brachten. Diese Verknüpfung von traditioneller Quellenkritik mit moderner Technik führte jetzt auch bei einem anderen Projekt zu ersten Erfolgen: Norbert Pap und sein Team wollen den genauen Ort der Schlacht von Mohács 1526 finden, in der Süleyman die Ungarn vernichtend schlug.
Das Treffen gehört zu den großen Entscheidungsschlachten der europäischen Geschichte, legte sie doch die Entwicklung Mittel- und Osteuropas über Jahrhunderte hinweg fest. Das riesige Königreich Ungarn zerfiel in drei Teile. Den Westen erhielten die Habsburger, Zentralungarn mit Buda kam unter osmanische Herrschaft, und im Osten wurde Siebenbürgen zu einem eigenständigen Fürstentum unter mehr oder weniger fester Oberhoheit der Sultane in Istanbul.Pap und sein Team konnten bei Mohács die Überreste des sogenannten Türkenhügels als den Ort identifizieren, auf dem Süleyman vor der Schlacht betete – und von dem aus er das Kampfgeschehen möglicherweise verfolgte. „Dort hatte früher ein römischer Beobachtungsturm gestanden, entlang der alten Heerstraße, die auch die Osmanen für ihren Aufmarsch nutzten“, sagt Pap.
Später errichteten die Sieger auf dem Hügel einen „Kiosk“, einen Pavillon, neben dem ein tiefer Brunnen angelegt wurde – beides zur Erinnerung an Süleymans größten Sieg. Nach Ausweis der Quellen diente der Bau lange als eine Art Wallfahrtsort. Doch das Holz wurde morsch, und das Zeugnis osmanischer Weltmacht schwand dahin. Bislang wurden keine archäologischen Überreste gefunden.
Die lange gehegte Annahme, Süleyman habe auf dem Türkenhügel auch sein Zelt errichtet, konnten die Forscher inzwischen widerlegen. „Dafür hätte es einer Fläche von rund 1500 Quadratmetern bedurft“, sagt Pap. „Aber auf dem Hügel war nur Platz für 70 Quadratmeter.“ Bis 2020 wollen er und sein Team den genauen Ort der Schlacht, die Aufmarschrichtungen und den Frontverlauf bestimmen können.
Süleymans Türbe in Szigetvár, Gül Babas Türbe in Budapest, der Siegeskiosk bei Mohács – sie alle verweisen auf den größten Herrscher der Osmanen. In seiner langen Regierungszeit von 46 Jahren eroberte Süleyman I. der Prächtige nicht nur Ungarn, sondern er eroberte auch weite Teile Mesopotamiens, des Iran und des Kaukasusgebiets und sorgte mit weitreichenden Verwaltungsreformen dafür, dass das Osmanische Weltreich auch nach seinem Tod eine Zukunft hatte, trotz weniger fähiger Nachfolger.
Die Gedenkstätten, die an Süleyman erinnerten, erfüllten dabei eine wichtige politische Funktion, sagt Pap. „Sie dienten der symbolischen Landnahme, aber auch der Mobilisierung der Gläubigen.“ Wenn osmanische Armeen in die Schlacht zogen und an einer Türbe oder einem Kiosk vorbeikamen – es gab andere bei Belgrad und im Kosovo – dann erbat der jeweilige Heerführer dort Allahs Hilfe im Kampf für den rechten Glauben.
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